Songs of Reeds ist ein Projekt zur Erforschung alternativer Konzertformate unter Einbezug von Performance und neuer Medien. Das Ziel des Projektes ist die Entwicklung ein interdisziplinäres Konzert für Oboen. Dazu setzt sich das sechsköpfige Team bestehend aus Komponist:innen diverser Genres in thematischer Perspektive mit „Filterblasen” und „Echokammern“ im Internet auseinander.

Zur Einführung

Das Projekt stellt eine Fortsetzung und Erweiterung des Projektes SONGS OF REEDS dar. Im Jahr 2021 war das Team auf Tournee durch fünf Städte in der Schweiz. Dieses Angebot bestand aus einem etwa 50-minütigen Oboenkonzert mit Lichtprojektionen, bei dem vier neue Werke junger Komponist:innen, uraufgeführt wurden. Diese sind in enger Zusammenarbeit mit der iranischen Fotografin Roya Noorinezhad entwickelt worden. Das Projekt befasste sich mit der COVID-19-Krise und ihren Auswirkungen. Es geht um die Momente von Quarantäne und Isolation. Es handelte sich um ein interdisziplinäres Projekt, bei dem Musik, bildende Kunst und Technologien zusammengeführt wurden, um eine künstlerische Vision des aktuellen Zustands der Welt und der großen Probleme von heute zu bieten.

Die vier Komponist.innen Anna Sowa, Gitbi Kwon, Isandro Ojeda-García und Tobias Krebs hatten während des kreativen Prozesses einen intensiven Austausch mit Roya Noorinezhad und dem Oboisten Vicente Moronta. Eine Art Ping-Pong-Spiel, bei dem musikalische und visuelle Ideen miteinander in Dialog traten. Folgende Elemente spielten im kreativen Prozess eine zentrale Rolle: der Umgang mit Räumlichkeit, die Kontextualisierung von Licht und Szenografie, die digitale Projektion, die Mobilität des Publikums und die (Selbst-)Inszenierung der Performer:innen. Darüber hinaus wurden die Kompositionen und Lichtprojektionen durch Texte aller Art inspiriert: Gedichte, Schlagzeilen, Social-Media-Posts, Statistiken, öffentliche Meinungen, Hashtags, Cartoons, Witze oder jede andere Art von schriftlichem Material.

Für die zweiten Ausgabe von SONGS OF REEDS sollen von Verena Weinmann, Cristiana Palandri, Daniel Zea und Pablo Garreton Stücke für Oboe, Oboe d’Amore und Englischhorn geschrieben werden, die mit elektronischen sowie Video- und theatralischen Mitteln interagieren und von Vicente Moronta aufgeführt werden. Die Aufführungen sollen in Basel, Köln, Zürich, Berlin, Genf, Hamburg, Bern, Buenos Aires, Santiago und Valparaiso stattfinden. Dabei wird die Kontinuität gewahrt und die ästhetische und technische Erfahrung der bisherigen Aufführungen im Jahr 2021 erweitert.

Konzeptioneller Rahmen

Das Versprechen des Internets als “offener” Ort zur Erkundung und Erweiterung des Horizonts durch das Verständnis multipler Perspektiven ist in der heutigen Zeit – mit der Nutzung der sogenannten sozialen Netzwerke – zu einer fast unrealistischen Utopie geworden.
 
Was ursprünglich dazu diente, Menschen mit gemeinsamen Interessen in verschiedenen Teilen der Welt gleichzeitig miteinander zu verbinden, ist heute zu eine Ansammlung geschlossener Räumen im Stil von “Filterblasen” geworden. Eine Umgebung, in der eine Person nur auf Informationen oder Meinungen trifft, die ihre eigenen widerspiegeln und verstärken. Eine Echo Chamber, in der lediglich die eigenen Überzeugungen gespiegelt werden.
 
Menschen mit ähnlichen Gedanken oder Interessen beginnen, eine parallele Realität zu konstruieren, in der alle dazu neigen, gleich zu denken. Eine Umgebung, die gesellschaftliche Polarisierung und die radikale Gedanken befördert und von Algorithmen angetrieben wird.
 
Wir sind Zeugen einer Realität, in der Menschenverstand unterschiedliche Formen annimmt, je nachdem, wo er online inszeniert wird. Es handelt sich um symbolische Konstruktionen, die durch eine Ritualisierung automatisch standardisiert werden, unter dem Einfluss eines Systems von Algorithmen, das jede Sekunde an Stärke gewinnt und unsere Welt in einer alarmierenden und schwindelerregenden Weise verändert. Ein Labyrinth ohne Ausgang und ohne Rückkehr, in dem Identität und Realität geformt und verzerrt wird.
 
Diese künstliche Intelligenz konfiguriert Inhalte auf der Grundlage der vermeintlichen Interessen der Nutzer, wodurch eine größere Isolation und geschlossene Räume entstehen, die manchmal keine Kommunikation mit anderen Räumen haben. Dies ist die bereits erwähnte parallele Realität, die einen Kontext schafft, der den Aufbau eines Modells der Koexistenz und Vielfalt zu erschweren scheint.
 
Der Zweck der Algorithmen besteht darin, die Nutzer mit Informationen und Inhalten, die sie interessant finden, in Verbindung zu halten, mit dem Ziel, Werbung anzuzeigen, um die Gewinnmaximierung der Plattformen zu steigern.
 
Die Entwicklung dieser Algorithmen, die mit zunehmender Nutzung immer ausgefeilter werden, hat ein Ausmaß erreicht, das außer Kontrolle zu geraten scheint.
 
Was passiert, wenn sich die reale Person verändert? Wie formen die Echokammern unsere eigenen Identitäten? Was ist das Original? SONGS OF REEDS behandelt diese aktuelle Frage aus einer kritischen und proaktiven Perspektive und schlägt eine klangliche, visuelle und theatralische Behandlung vor, die eine transformative Reflexion hervorruft.

Über die Performance

SONGS OF REEDS ist eine Gelegenheit zum Träumen und Schaffen im Kontext eines noch nie zuvor gekannten historischen Wendepunkts. Angesichts einer komplexen Situation ist die Kreativität junger Künstler:innen mit der Notwendigkeit verbunden, zu experimentieren und vor allem ein innovatives szenisches Angebot von und für das heutige Publikum zu entwickeln. In diesem Zusammenhang schlägt Vicente Moronta den Komponist:innen vor, das gesamte Instrumentarium der Oboenfamilie und insbesondere die Rohrblätter zu verwenden. Für ihn ist das Rohrblatt die Grundlage für vielfältige Klangmöglichkeiten. Der Einsatz der Stimme, der Einsatz extremer technischer Mittel, das Atmen als Musikalität, die Aufbereitung der Instrumente, die Verbindung mit Elektronik und Video sowie die Inszenierung tragen zu der Vielseitigkeit und Ausdruckskraft bei, die ihn auszeichnen.

Die Beschäftigung mit neuen Medien ist ein weiterer wichtiger Aspekt des Projektes: Das wichtigste Kommunikationsmittel überhaupt, das Internet, entpuppt sich als ein künstlerischer Gegenstand an sich, auf den auf unterschiedlichste Weise Bezug genommen wird. Entsprechende Gestaltungselemente wie Verzerrung, Verpixelung, Verzögerung, Brechung, Zeitlupe, Zeitraffer etc. werden zum integralen Bestandteil der künstlerischen Arbeit, visuell, auditiv und auch räumlich. Auf diese Weise werden verschiedene Bereiche und Perspektiven in Bezug auf das Publikum entwickelt.

Das Projekt verfügt über ein genderdiverses Team von vielseitigen Künstler:innen mit sehr unterschiedlichem soziokulturellen Hintergründen. Dies bietet den Nährboden für eine fruchtbare künstlerische Auseinandersetzung mit aktuellen Themen. Die Echokammern werden von geschlossenen Labyrinthen zu Labyrinthen mit mehreren Ausgängen. Ausgänge, die freiwillig von den Menschen geschaffen werden, von denen, die mehr sind und die Mitverantwortung für die Transformation dieser komplexen Realität übernehmen. Diese Konjunktur wird konkret und abstrakt in einem facettenreichen Kaleidoskop aus Klang, Licht, Wort, Zeit und Raum verarbeitet, das zum Nachdenken anregt und existenzielle Fragen aufwirft.